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Die nächste Evolutionsstufe von Nissans ProPilot

Vollelektrische Prototypen-Flotte auf Basis des Nissan Ariya im Stadtverkehr von Tokyo - Bildnachweis: Nissan

Vom Autobahnhelfer zur Stadtintelligenz

Manchmal ist es ein unscheinbarer Moment, der die automobile Zukunft greifbar macht. Inmitten der hektischen Straßenschluchten Tokios rollt ein weißer Nissan Ariya über einen Zebrastreifen, scheinbar mühelos und ohne sichtbare Unsicherheit. Was wie Science-Fiction wirkt, ist in Wahrheit der Testlauf einer neuen Fahrzeuggeneration, die den Anspruch erhebt, den Weg zum automatisierten Fahren entscheidend weiterzuführen. Nissan nennt dieses System schlicht die nächste Generation von ProPilot, doch die Technologie dahinter öffnet eine Tür in eine neue Ära der Fahrassistenz.

Nissan wagt den Sprung: ProPilot lernt die Stadt

Die Geschichte von ProPilot begann 2016 mit einem System, das auf einspurigen Autobahnen dem Fahrer unterstützend zur Seite stand. In einer zweiten Evolutionsstufe, ProPilot 2.0, wurde die Autobahnunterstützung erweitert und erlaubte unter bestimmten Bedingungen sogar das Fahren ohne Hand am Lenkrad. Doch komplexe urbane Verkehrsumgebungen wie Kreuzungen, Fußgängerströme oder spontane Radfahrer blieben eine kaum beherrschbare Herausforderung. Genau hier setzt die neue Generation an, die 2027 zunächst in Japan eingeführt werden soll, bevor sie mittelfristig auch nach Europa und damit nach Deutschland kommen könnte.

Das weiterentwickelte Fahrassistenzsystem bewältigt auch komplexe Verkehrssituationen und startet 2027 zunächst in Japan – Bildnachweis: Nissan

Technik im Detail

Im Zentrum steht die Verschmelzung von Nissans eigener Sensorfusion mit der lernenden Software „Wayve AI Driver“ des britischen Start-ups Wayve. Sie verarbeitet keine vorprogrammierten Routen, sondern analysiert in Echtzeit elf Kameras, fünf Radarsysteme und einen auf dem Fahrzeugdach platzierten Lidar-Sensor. Die Stärke dieses Ansatzes liegt darin, Verkehr nicht nur als Summe einzelner Objekte wie Autos oder Fußgänger zu verstehen, sondern als dynamisches Geflecht von Szenarien. Damit nähert sich die Steuerung dem, was einen erfahrenen menschlichen Fahrer auszeichnet: vorausschauend denken, Muster erkennen, das eigene Handeln anpassen.

Aber es bleibt ein Level-2-System nach SAE-Definition, das heißt: Die Verantwortung bleibt vollständig beim Fahrer, und ein sicheres Mitschwimmen im Verkehr erfordert nach wie vor Aufmerksamkeit und die Bereitschaft zum sofortigen Eingreifen. Ein echter Quantensprung zu vollautonomen Fahrzeugen ist es nicht – eher ein Zwischenschritt mit hoher Relevanz, denn die Sicherheit in Alltagssituationen könnte deutlich steigen.

Der Anspruch: Näher am Menschen

Nissan betont, dass das Fahrverhalten der KI an menschliches Denken angelehnt sei. Während heutige Assistenzsysteme meist starr programmiert wirken und abrupt reagieren, soll Wayve AI eine flüssigere, vorhersehbarere Steuerung ermöglichen. Tatsächlich zeigen erste Testberichte aus Japan, dass das Fahrgefühl weniger nach Roboter wirkt. Dennoch stellt sich die Frage, wie zuverlässig und robust dieser Ansatz unter  deutschem Wetter mit Schneematsch, verdeckten Fahrbahnmarkierungen oder komplexen Kreisverkehren funktioniert. Gerade in Europa müssen sich intelligente Systeme in einem sehr diversen Verkehrsalltag bewähren.

Der Blick zur Konkurrenz

Auf globaler Ebene ist Nissan nicht allein mit dem Anspruch, die Grenzen von Fahrassistenz zu verschieben. Tesla verfolgt mit seinem „Full Self Driving“-Paket eine softwarezentrierte Strategie, verläßt sich dabei aber auf einen kompletten Verzicht von Lidar und basiert weiterhin auf Level-2-Systemen, die in der Praxis oft stärker in der Kritik stehen. Mercedes hat mit dem Drive Pilot bereits die Zulassung für ein Level-3-System auf bestimmten Autobahnabschnitten in Deutschland erhalten und damit formal eine Stufe mehr erreicht, wenn auch eingeschränkt in Geschwindigkeit und Einsatzgebiet. BMW wiederum setzt mit seinem Highway Assistant auf eine komfortorientierte Unterstützung bei langen Fahrten, während der Volkswagen-Konzern unter IQ.Drive eine ganze Palette von Assistenten bündelt, allerdings bisher ebenfalls klar in der Level-2-Logik verankert. In diesem Umfeld positioniert sich Nissan technologisch ambitioniert, aber nicht allein im Spitzenfeld.

Marktstart und mögliche Preise

Nissan kündigt an, die neue Generation ab 2027 in Japan auf den Markt zu bringen. Konkrete Preisnformationen für Europa liegen noch nicht vor, doch die aktuelle Entwicklung macht deutlich, dass Advanced Driver Assistance Systems zunehmend zu Differenzierungsmerkmalen im oberen Preissegment werden. Betrachtet man die aktuelle Preisgestaltung von Nissan in Deutschland, ist ProPilot 2.0 etwa in Modellen wie dem Ariya als Bestandteil höherer Ausstattungslinien oder als Zusatzoption für mehrere tausend Euro verfügbar. Es ist daher wahrscheinlich, dass auch die neue Stufe in Europa mit einem erheblichen Aufpreis angeboten wird, zumal der Lidar-Sensor und die leistungsstarke Rechenplattform zusätzliche Kosten verursachen. Ein flächendeckender Einsatz in günstigeren Volumenmodellen dürfte dagegen zunächst ausbleiben.

Chancen und Zweifelsfragen

Deshalb muss die nüchterne Einordnung erfolgen: Die Technologie wirkt faszinierend, doch sie ist weder ein Allheilmittel noch der finale Übergang zum autonomen Fahren. Fragen nach der Robustheit der Software in Extremsituationen, nach der Akzeptanz der Fahrer und nach der Versicherungsbewertung sind längst nicht beantwortet. Hinzu kommt, dass der rechtliche Rahmen in Europa weiterhin hohe Anforderungen stellt und Level-3-Systeme wie jenes von Mercedes erst unter engen Bedingungen zugelassen sind. Ob Nissan diese Hürde glätten kann, bleibt abzuwarten.

Aber gleichzeitig darf nicht unterschätzt werden, wie viel Alltagssicherheit schon eine feinfühligere Assistenz im stockenden Stadtverkehr oder bei Nachtfahrten bringt. Eine Reduzierung von Auffahrunfällen oder missverständlichen Situationen mit Fußgängern kann für den Massenmarkt relevanter sein als vollautonome Robotaxis.

Nissan hebt sein ProPilot-System in eine neue Dimension, die den Schritt aus der Autobahn-Blase in die komplexe Stadt wagt.  Das Zusammenspiel aus Lidar, Radar und lernender KI könnte für die Automobilbranche ein wichtiger Testfall werden, den auch deutsche Hersteller mit großem Interesse beobachten dürften. Die entscheidende Frage bleibt, ob die Technologie in der Praxis das Vertrauen gewinnt, das sie im Labor und auf Testfahrten suggeriert. Denn am Ende wird nicht der Sensor auf dem Dach den Unterschied machen, sondern das Vertrauen des Fahrers hinter dem Lenkrad.