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Gemeinsamer Code für die Zukunft: Wie Open Source die Autoindustrie verändert – VDA initiiert Open-Source-Offensive

Bosch bündelt seine Software- und Elektronikkompetenz im neuen Geschäftsbereich "Cross-Domain Computing Solutions"- Bildnachweis: Bosch

Konkurrenz im Code vereint: Neue Allianz für Fahrzeugsoftware gestartet

Ein neuer Weg in der Softwareentwicklung vereint elf große Player der Automobilindustrie. Unter Federführung des VDA wurde nun ein Memorandum unterzeichnet, das nicht weniger verspricht als einen Paradigmenwechsel in der Fahrzeug-IT.

Der Softwaredruck steigt – die Branche reagiert

Moderne Fahrzeuge sind längst mehr Rechenzentrum als reines Transportmittel. Mit der zunehmenden Digitalisierung steigen Komplexität, Funktionsdichte und Entwicklungsaufwand – gerade im Bereich der Software. Systeme zur Fahrzeugkommunikation, Middleware, Cybersecurity oder Over-the-Air-Updates verursachen hohe Kosten und bergen Risiken. Hinzu kommt ein zunehmender internationaler Wettbewerb, etwa durch Software-getriebene Anbieter aus den USA und China.

Was aber, wenn genau jene Softwarekomponenten, die für die Endnutzer keinen direkten Mehrwert bieten – sogenannte nicht-differenzierende Module – künftig gemeinsam entwickelt würden?

Genau darauf zielt das neu geschlossene „Memorandum of Understanding“ (MoU) der elf Unternehmen ab. Unterstützt vom Verband der Automobilindustrie (VDA) wurde auf dem 29. Internationalen Automobil-Elektronik-Kongress im Juni 2025 ein gemeinsames Vorhaben für ein Open-Source-basiertes Software-Ökosystem offiziell besiegelt. Mit dabei: Branchengrößen wie BMW, Mercedes-Benz, Bosch, Continental, Porsche, ZF, Valeo, Vector Informatik, Hella, ETAS und Qorix.

Open Source als gemeinsamer Nenner

Im Zentrum des Vorhabens steht der Aufbau eines offenen Software-Stacks unter dem Dach der Eclipse Foundation. Dort wird das Projekt „S-CORE“ entwickelt, das als technisches Rückgrat dienen soll. Im Gegensatz zu früheren proprietären Entwicklungen setzen die Beteiligten auf einen sogenannten „Code-First“-Ansatz. Anstatt abstrakter Spezifikationen werden direkt lauffähige Softwarebausteine erstellt, die von allen Beteiligten weiterverwendet und weiterentwickelt werden können.

Das Ziel ist ein modular aufgebautes, standardisiertes Grundgerüst, das alle OEMs und Zulieferer als Basis für ihre eigenen Serienprojekte nutzen können – rechtlich abgesichert durch ein Governance-Modell und regulatorisch anschlussfähig an funktionale Sicherheitsanforderungen wie ISO 26262.

Kooperation mit System – aber nicht grenzenlos

Wichtig: Das MoU ist ausdrücklich nicht rechtsverbindlich. Es formuliert eine strategische Absichtserklärung zur Zusammenarbeit, ohne Unternehmen zur ausschließlichen Nutzung der gemeinsamen Plattform zu verpflichten. Jedes Unternehmen bleibt frei, zusätzliche eigene Softwarelösungen zu entwickeln oder zu vertreiben.

In der Praxis bedeutet das: Während die nicht-kundendifferenzierenden Funktionen künftig gemeinsam gepflegt werden – etwa Middleware, Kommunikationsschnittstellen oder Sicherheitsfunktionen – konzentrieren sich die Hersteller auf markenspezifische Merkmale wie Fahrdynamik, Infotainment oder Nutzeroberflächen.

Meilensteine und Zeitplan

Die technische Umsetzung schreitet bereits voran. Seit Ende 2024 ist das Projekt S-CORE innerhalb der Eclipse SDV Working Group formal aufgesetzt. Der Prozess zur Open-Source-kompatiblen Softwareentwicklung wurde Anfang 2025 ISO-konform definiert und extern auditiert. Im Sommer 2025 steht die Referenzarchitektur.

Bis Ende 2025 soll eine erste öffentliche Implementierung zentraler Module verfügbar sein. 2026 wird dann eine vollständige Softwaredistribution erwartet, die sich direkt in Serienprojekte integrieren lässt. Spätestens 2030 plant man mit der Markteinführung des ersten Fahrzeugs, das vollständig auf der Open-Source-Architektur basiert.

Chancen und Risiken

Die Vorteile liegen auf der Hand: Durch den gemeinsamen Entwicklungsaufwand sinken Kosten, Doppelarbeiten werden vermieden, die Markteinführungszeit verkürzt sich deutlich. Gleichzeitig profitieren alle Beteiligten von einem höheren Maß an Standardisierung, Wiederverwendbarkeit und langfristiger Wartbarkeit. Für kleinere Softwareunternehmen öffnet sich zudem ein Einstieg in die automobilen Lieferketten – mit offener Architektur und standardisierten Schnittstellen.

Doch es bleiben Herausforderungen. Die notwendige funktionale Sicherheit muss bei Open-Source-Software zuverlässig gewährleistet werden. Zwar ist eine Zertifizierung nach ISO 26262 vorgesehen, doch die Harmonisierung mit den Entwicklungsprozessen großer OEMs dürfte aufwendig bleiben. Auch die Abgrenzung zu proprietären Innovationen verlangt strategisches Feingefühl – zu groß ist das Risiko, versehentlich wertschöpfende Differenzierungsmerkmale offenzulegen.

Hinzu kommt die globale Dimension: Ziel der Initiative ist ein europäisch verankertes, aber international anschlussfähiges Ecosystem. Dazu sollen auch andere Standards wie AUTOSAR und COVESA integriert werden. Gleichzeitig sollen Fragmentierungen durch nationale Alleingänge verhindert werden – ein Anliegen, das auch politische Unterstützung und möglicherweise öffentliche Förderung auf nationaler und europäischer Ebene erfordert.

Einordnung: Fortschritt oder Pflichtübung?

Das neue MoU markiert zweifellos einen Wendepunkt in der Automobilentwicklung. Statt in Silos zu agieren, setzen einstige Wettbewerber in zentralen, nicht differenzierenden Bereichen auf Kooperation. Das ist nicht nur ökonomisch sinnvoll, sondern auch technisch geboten – denn viele der zukünftigen Herausforderungen, etwa bei autonomem Fahren, Over-the-Air-Updates oder Cybersecurity, lassen sich allein kaum noch stemmen.

Ob daraus am Ende ein nachhaltiger Wettbewerbsvorteil für die europäische Industrie erwächst, wird sich zeigen. Entscheidend wird sein, wie offen das System wirklich bleibt, wie verbindlich die Standards definiert werden und wie groß die tatsächliche Beteiligung über den Kreis der Erstunterzeichner hinaus sein wird.

Was aber feststeht: Die Autoindustrie öffnet sich strukturell für eine neue Form der Zusammenarbeit – und geht dabei nicht nur technologisch, sondern auch kulturell einen entscheidenden Schritt.