Über hundert Kilometer mehr als angegeben
Kurz nachdem bereits Hyundai einen PR-Stunt mit seinem Elektro-Kona für sich verbuchen konnte, legt nun VW nach. Beide Hersteller möchten aufzeigen, dass man je nach Fahrweise die Reichweite nach WLPT knacken – ja sogar deutlich erhöhen – kann.
„Hypermiler“ verfolgen das Ziel eines tiefstmöglichen Verbrauchs- und höchstmöglicher Reichweite mit einem Fahrzeug. Hierzu wird wo irgendmöglich im „Segel-Modus“ gefahren, indem er den Fuß immer wieder vom Gas genommen wird und das Auto rollen gelassen wird. Das spart Treibstoff – oder im aktuellen Fall Strom.
Der Rekordjäger Felix Egolf (der Name stimmt wirklich) möchte das Reichweiten-Limit des Elektroautos ausloten, mit einer Fahrt von Deutschland in die Schweiz, über rund 530 Kilometer. Dazu reist er ins sächsischeZwickau. Viele der 90.000 Einwohner arbeiten im Werk der Volkswagen Sachsen GmbH, wo seit mehr als 100 Jahren Autos hergestellt werden, darunter früher auch der Trabant. Ein ID.3 in der mittleren Batterie-Variante mit 58 kWh wartet bereits hinter dem Eingangstor auf den Schweizer Testfahrer. Nach einer kurzen Einführung wird das Elektromobil beladen – mit zwei Reisekoffern plus einer kompletten Foto- und Filmausrüstung inklusive einer Drohne.
Mit Mehrgewicht unterwegs
Gemäß dem offiziellen Fahrzeug-Steckbrief hat der ID.3 mit vollgeladener Batterie eine WLTP-Reichweite von 420 Kilometern. Dabei wird aber nur vom Fahrer ohne Gepäck ausgegangen. Doch Felix Egolf, der Kameramann und das Equipment bringen es auf knapp 250 Kilogramm. Der erfahrene Effizienzmeister lässt sich davon aber nicht aus der Ruhe bringen: Er will beweisen, dass er selbst mit massivem Mehrgewicht die Werksangaben toppen kann.
Die Rekordfahrt startet am nächsten Morgen kurz nach 5 Uhr. Bereits nach den ersten hundert Metern wird klar, was einen Hypermiler wie Felix Egolf von anderen Autofahrern unterscheidet: Er ist konzentriert, schwungvoll und sehr vorausschauend unterwegs – das Bremsen wird möglichst vermieden, damit der Wagen konstant in Bewegung bleibt. Die Durchschnittsgeschwindigkeit beträgt 56 Stundenkilometer. „Optimal wäre, ein Drittel der Gesamtstrecke ohne Motorenkraft zurückzulegen“, erklärt er. Besonders auffällig ist sein Anfahren von Kreiseln: Kurz vorher stellt er den Automatik-Wählschalter von „D“ auf „N“. So fliegt das Auto förmlich aufs Ziel zu, und das überschüssige Tempo wird mittels Rekuperation – der Rückgewinnung der Energie durch die Motorenbremse – sanft abgebaut. Der Clou beim ID.3 ist, dass er Kreisel und Temposchilder eigenständig erkennt und von sich aus langsamer wird.
Navigation, Tagfahrlicht, Radio und Lüftung bleiben an. Denn der Komfort soll auch während des Langstreckentests nicht geschmälert werden. Die erste Hälfte der Route besteht hauptsächlich aus Autobahnkilometern. Der ID.3 belegt konstant die rechte Spur und gleitet – mit genügend Abstand – im Windschatten der Lastwagen dahin.
Segeln im Fichtelgebirge
Dank der Auf-und-Ab-Topografie der A9 durch das Fichtelgebirge sind immer wieder längere Segelphasen möglich. Anhöhen werden grundsätzlich in eher gemächlichem Tempo erklommen, denn sie lassen die angezeigten Reichweiten-Kilometer auf dem Tacho dahinschmelzen. Die verlorene Energie holt er sich durch die Rekuperation bergab zum Teil wieder zurück.
Bei Kilometer 87, in der bayrischen Stadt Hof, sind bereits 19 Prozent der Batterie aufgebraucht. Die Reichweiten-Anzeige meldet 346 Kilometer – doch bis zum Wunschziel sind es noch 444 Kilometer. Darum muss Felix Egolf jetzt sein ganzes Können einsetzen. Die Reise geht vorbei an Touristen-Besuchszielen wie Bayreuth, Nürnberg und Ulm. Hier, nach fast 400 Kilometern, gibt es ein Aufatmen: Die Restreichweite entspricht erstmals der Distanz bis zum Ziel in Schaffhausen.
Als die Schweizer Grenze näher rückt und die Restenergie immer knapper wird, fühlt sich das Ganze langsam wie ein Krimi an. Ein Notfallplan steht bereit: Vorsorglich wird schon einmal recherchiert, wo die nächste Ladestation steht. Doch der Hypermiler vertraut seinem Instinkt – und fährt nach dem Passieren des Zolls unbeirrt weiter, obwohl die Batterie-Leistungsanzeige inzwischen bei zwei Prozent steht und das Ziel noch über zehn Kilometer entfernt liegt.
Die Spannung wird fast unerträglich. Noch fünf Kilometer, noch drei, noch einer… Doch das Wagnis zahlt sich nach neuneinhalb Stunden Fahrtzeit und einer Strecke von 531 Kilometern aus: Der erste ID.3 in der Schweiz erreicht die AMAG Schaffhausen. Dort schart sich sofort die Hälfte der Belegschaft um das brandneue E-Mobil – und gratuliert dem Fahrer zu seiner Rekordfahrt.
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