MOTORMOBILES

Das Automagazin im Internet

Lebenszyklus statt Auspuff: Wie Autos zukünftig beim Green NCAP über das ganze Autoleben bewertet werden

VW PAssat beim Green NCAP-Test - Bildnachweis: Green NCAP

 

Vom Rohstoff bis zum Recycling: Green NCAP verändert die Spielregeln

Es klingt wie ein Paradigmenwechsel, und tatsächlich ist es einer: Zum ersten Mal in der Geschichte der Fahrzeugtests wird nicht nur gemessen, was am Auspuff herauskommt oder wie effizient ein Antrieb unter Laborbedingungen läuft. Green NCAP, das europäische Schwesterprogramm des bekannten Crashtest-Instituts Euro NCAP, schaut nicht mehr allein auf die Fahrt, sondern nimmt nun auch die Belastungen in den Blick, die entstehen, bevor ein Auto überhaupt die erste Straße berührt und lange nachdem es wieder verschrottet ist. Damit verändert sich der Blick auf Nachhaltigkeit im Straßenverkehr grundlegend.

Von Abgasen zu Lebenszyklen

Seit seiner Gründung war Green NCAP darauf ausgerichtet, die reale Umweltbelastung eines Autos im Fahrbetrieb zu bewerten. Über Jahre hinweg stand dabei die Abgasmessung im Vordergrund, flankiert von Tests zur Effizienz und Energieaufnahme. Das war sinnvoll und brachte Transparenz in eine Debatte, in der Herstellerangaben oft geschönt wirkten. Aber die Kehrseite fehlte: Herstellung, Rohstoffgewinnung, Recycling und Entsorgung blieben außen vor. Genau dieses Loch schließt das neue Testverfahren.

Eine komplexe Methodik

Die Methodik ist aufwendig und anspruchsvoll, weil Emissionen im Lebenszyklus nicht wie Abgaswerte direkt auf der Straße gemessen werden können. Deshalb kombiniert Green NCAP reale Straßen- und Labortests mit belastbaren Daten aus wissenschaftlich begutachteten Studien. Für alle Fahrzeuge wird ein fiktives Leben von sechzehn Jahren und 240.000 Kilometern unterstellt, was zwar nicht für jede Fahrrealität gilt, aber eine einheitliche Vergleichsbasis darstellt. In diese Berechnung fließen die Emissionen durch Produktion der Rohstoffe genauso ein wie Energieverbrauch während der Nutzung, Wartungsaufwand, Reifen- und Bremsabrieb sowie am Ende der Recyclingprozess.

Gewinner und Verlierer im Test

Aber was bedeutet das für die Ergebnisse? Erstens zeigt sich, dass kleine, leichte Elektroautos in diesem neuen Raster am besten abschneiden. Modelle wie der Mini Cooper E oder der Fiat 600e erreichen die Bestnote von fünf Sternen. Sie vereinen vergleichsweise geringen Ressourcenverbrauch in der Fertigung mit lokal emissionsfreiem Betrieb. Für große Elektro-SUVs stellt das Verfahren jedoch ein Korrektiv dar: Ein Kia EV9 bringt wegen seines Gewichts von über 2,5 Tonnen und des immensen Materialeinsatzes nur drei Sterne, trotz aller Fortschritte bei Batterietechnik und Verbrauch im Betrieb. Damit wird deutlich, dass „Elektro“ nicht automatisch „grün“ bedeutet, sondern immer im Kontext der gesamten Kette betrachtet werden muss.

Überraschungen bei Verbrennern

Deshalb ist auch der Blick auf Verbrenner interessant. Der Hyundai i20 mit kleinem Dreizylinder-Turbobenziner holt 3,5 Sterne und zeigt, dass ein sparsames Auto mit moderater Leistung und Gewicht selbst als Verbrenner nicht per se umweltschädlicher wirkt als manch schweres Elektrofahrzeug. Es bleibt ein Stück Wahrheit in der simplen Botschaft: weniger Masse, weniger Verbrauch, weniger Emissionen – unabhängig vom Antrieb.

Der Einfluss des Energiemixes

Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist die Einbeziehung der Stromerzeugung. Gerade in Deutschland, wo der Energiemix trotz steigender Anteile erneuerbarer Quellen noch immer von fossilen Energieträgern dominiert wird, kann der CO₂-Vorteil eines Elektroautos im Betrieb schrumpfen. Green NCAP bezieht diese Faktoren mit ein, wodurch die Ergebnisse realistischer wirken als reine technische Laborwerte. Auch die bislang unterschätzten Nicht-Abgasemissionen aus Reifen- und Bremsabrieb fließen ein. Diese gelten inzwischen als erhebliche Belastung für die Luftqualität und sind nicht nur für Verbrenner, sondern auch für schwere Elektroautos mit hohem Drehmoment ein Problem.

Kritische Fragen an die Methode

Aber die Einführung dieses ganzheitlichen Prüfstandards wirft Fragen auf. Welche Datenquellen sind repräsentativ für die weltweite Rohstoffgewinnung? Wie stark spiegeln die pauschalen Annahmen, etwa zur Fahrzeuglebensdauer, den deutschen Markt wider, wo Autos im Schnitt deutlich jünger aus dem Verkehr gezogen werden als in Südeuropa? Und wie wirkt sich eine solche Bewertung auf Kaufentscheidungen aus, wenn die klassische Kilowatt- oder Literangabe auf dem Datenblatt nicht mehr genügt, um die Umweltbilanz einzuschätzen?

Auswirkungen für Verbraucher und Industrie

Für den Verbraucher, der heute vor der Wahl zwischen einem leichten City-Stromer, einem Plug-in-Hybrid, einem kleinen Benziner oder einem schweren Premium-SUV steht, bietet das System mehr Orientierung als jemals zuvor. Gleichzeitig zwingt es die Industrie, ihre Strategien zu überdenken. Wenn künftig nicht nur die Effizienz auf der Straße, sondern auch der Fußabdruck der Batteriefabriken über einen Teil der Glaubwürdigkeit entscheidet, werden Unternehmen ihre Lieferketten transparenter gestalten müssen.

Bedeutung für Deutschland

Deutschland spielt in diesem Prozess eine doppelte Rolle. Einerseits ist es ein wichtiger Markt, in dem der ADAC als Konsortialpartner von Green NCAP mit seiner Erfahrung in Abgastests eine prägende Stimme hat. Andererseits gilt gerade die deutsche Automobilindustrie mit ihren starken Oberklasse- und SUV-Modellen als besonders gefordert. Denn während Kleinwagenhersteller mit relativer Leichtigkeit fünf Sterne erreichen können, drohen die großen Aushängeschilder Made in Germany in dieser neuen Logik schlechter abzuschneiden.

Fazit: Ein Umdenken beim Autokauf

Am Ende könnte genau das die zentrale Botschaft sein: Der Blick aufs ganze Leben eines Autos entlarvt bequeme Mythen in der Mobilitätsdiskussion. Elektroautos sind ein wichtiger Schritt, aber nicht jede Kilowattstunde auf vier Rädern bringt automatisch eine bessere Bilanz. Entscheidend bleiben Gewicht, Effizienz, Stromherkunft und die Frage, wie lange das Fahrzeug tatsächlich genutzt wird. Green NCAP hat mit diesem neuen Bewertungsstandard begonnen, diese Komplexität in eine vergleichbare Form zu bringen. Damit wird das Programm nicht allein die öffentliche Wahrnehmung prägen, sondern vermutlich auch politische Diskussionen über Flottenziele und Modellstrategien beeinflussen.

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen