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Verdrängt autonomes Fahren den ÖPNV? Das vollautomatische Fahren auf Straße und Schiene wird kommen

Autonomes Fahren -Bildnachweis: UNIKIMS GmbH/Andrey Suslov

 

Autonomes Fahren wird zum „Game-Changer“ mit disruptivem Effekt für den Verkehr

Der autonom fahrende Personenwagen kann den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) schon in zehn bis fünfzehn Jahren regelrecht „überrollen“, oder aber die ÖPNV-Anbieter „verankern“ das Thema heute schon in ihren Unternehmen und binden die Politik sowie die Öffentlichkeit ein. Dann kann das Autonome Fahren auf Straße und Schiene den ÖPNV revolutionieren. Das ist das Fazit eines Masterprojekts zum Autonomen Fahren an der UNIKIMS, der Management School der Universität Kassel.

„Im Extremfall“, heißt es in der Ausarbeitung, wäre das Autonome Fahren „existenzbedrohend“ für den ÖPNV, denn dessen Alleinstellungsmerkmal, ohne eigene Fahrerlaubnis gefahren zu werden, ginge verloren. Der Leiter des Projekts, Alexander van Wersch, von der DB Regio AG in Nürnberg und Student in dem Studiengang, fordert die öffentlichen Verkehrsunternehmen auf, gemeinschaftlich zu handeln, um das Thema zu besetzen. Gegenüber den Belegschaften der Verkehrsunternehmen, die sich komplett verändern werden, fordert das Projektteam eine offene Kommunikation. Ungeachtet dessen seien Widerstände aus den Belegschaften zu erwarten, denn mit der Umstellung auf das Autonome Fahren auf Straße und Schiene werden die Fahrer überflüssig, während anders qualifiziertes Personal benötigt werde.

Für Ebert gehört Autonomes Fahren zusammen mit den neuen Mobilitätsplattformen und einem erkennbaren Wandel des Mobilitätsverhaltens in der Gesellschaft zu den zentralen Herausforderungen für den ÖPNV.

Die Autoren des Projektberichts zitieren ein Positionspapier des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) von 2015. Danach werde der Einsatz vollautonom fahrender Fahrzeuge einen „disruptiven Effekt auf dem Verkehrsmarkt haben, der die heutigen Nutzungsmuster, Besitz- und Geschäftsmodelle durcheinanderwirbeln“ werde. In dem Papier wird das Autonome Fahren als „Game-Changer“ beschrieben, weil es die traditionellen Grenzen zwischen den Verkehrssystemen verwischen wird, denn das selbstfahrende Fahrzeug könne im Prinzip alles sein: privates Auto, Taxis, Bus, Carsharing-Fahrzeug oder Sammeltaxi. Das Projektteam entwirft ein Bild von der nahen Zukunft, in dem es schon bald weit weniger private PKW mehr geben könnte, sofern die Verkehrsunternehmen ein Konzept entwickeln, in dem der ÖPNV und das Autonome Fahren auf Straße und Schiene miteinander verschmelzen. Die Zahl der Fahrzeuge würde dramatisch sinken, die wenigen verbliebenen wären aber nahezu ständig im Einsatz. Der Bedarf an Parkraum würde erheblich sinken, und der Stadtplanung eröffneten sich neue Möglichkeiten. Heute parke ein privater PKW 95 Prozent und werde nur in fünf Prozent der Zeit für Fahrten genutzt.

Fahrerlose Züge und autonome Kleinwagen fahren ohne Zwischenfälle

Autonomes Steuern von Fahrzeugen sei nicht neu, beschreiben die Autoren der wissenschaftlichen Arbeit die Ausgangslage. Sie verweisen auf die Seefahrt, die Autopiloten seit 1908 nutzt, und auf die Luftfahrt, die seit 1949 Autopiloten einsetzt. In Deutschland gibt es erst seit 2008 eine fahrerlose U-Bahn. Diese verkehrt in Nürnberg und übertrifft in ihrer Verkehrsleistung nicht-autonom-fahrende Züge, weil die fahrerlosen Züge im Gegensatz zu konventionellen Bahnen präziser und fehlerfrei in dichterer Folge fahren. In anderen Ländern – wie in Frankreich – sind solche Züge schon viel länger in Betrieb. In China hat ein Schienenfahrzeughersteller ein autonom fahrendes Verkehrsmittel entwickelt, das zwar aussieht wie eine Straßenbahn, aber wie ein Bus mit Gummirädern auf Asphalt fährt. Das spart die teure Investition in das aufwendige Gleis. Das vollautomatisch fahrende, von Akkus getriebene Fahrzeug für bis zu 500 Fahrgäste orientiert sich als Spurführung an einer gestrichelten Linie auf der Straße. In Großbritannien wurde mit dem Lutz Pathfinder ein autonom fahrender Kleinwagen für zwei Personen und Gepäck erfolgreich und ohne jede Zwischenfälle im Straßenverkehr getestet. Das Fahrzeug soll in weiteren 40 Städten in Großbritannien erprobt werden. Die Autoren des Masterprojekts verweisen auf weitere Versuche etwa von Google auf dem Feld des Autonomen Fahrens.

ÖPNV muss für das Autonome Fahren als Teil der Daseinsvorsorge werben

Indes sei es die Aufgabe von Vertrieb und Marketing der Verkehrsunternehmen, für Akzeptanz des Autonomen Fahrens bei den Kunden, in der Gesellschaft und bei der Politik zu sorgen. Der Umstieg auf das Autonome Fahren sei zu finanzieren, wenn es auch in Zukunft noch einen ÖPNV geben solle. Die Verkehrsunternehmen müssten der Politik die Bedeutung des Wandels klarmachen und sich in eine Definition des Gemeinwohls unter den vollkommen neuen Bedingungen einbringen. Die Privilegien, die der ÖPNV heute schon mit dem Recht, in Fußgängerzonen einzufahren oder über Vorrangschaltungen an Ampeln beschleunigt durch die Städte geschleust zu werden, genieße, sollten erhalten und auf autonom fahrende Autos im öffentlichen Besitz ausgeweitet werden. Die Nutzung privater Fahrzeuge im Sinne des hergebrachten Individualverkehrs sollte hingegen eingeschränkt werden, auch wenn diese autonom fahren. Das Projektteam schlägt für den klassischen Individualverkehr zum Beispiel Einschränkungen beim Befahren der Städte, eine City-Maut, die Verknappung von Parkraum, eine Steuerung über Parkgebühren und ein Tempolimit in Städten von 30 Kilometer in der Stunde vor.

Szenario: Straßenbahn und Bus brauchen keine Fahrer mehr

Die Verkehrsunternehmen seien in jedem Fall gezwungen, sich neu zu strukturieren, denn im vollständigen Ausbauzustand des Autonomen Fahrens werden die Fahrer von Bussen und Bahnen nicht mehr benötigt. Stattdessen werden Techniker mit anderen Qualifikationen benötigt und Mitarbeiter für die Disposition, die Fehler an möglicherweise liegengebliebenen Fahrzeugen beheben. Van Wersch spricht von „neuen Berufsfeldern“, die entstehen werden. Dieses weitgehendste Szenario werde aber noch einige Zeit benötigen und vermutlich nicht vor 2030 zu erwarten sein.